Machen wir ein Buch?

Reise, Sachbuch, Belletristik ...?
Alle interessanten Themen;
alles was bewegt.

Hier geht´s weiter!

Arme

Body: 

Arme

Alltägliche Bilder

Kinderreich heißt bettelarm

In Venezuela sind fast alle reich: die einen an Kapital, die anderen an Kindern. Der Kinderreichtum dient den Armen als Altersvorsorge, da es kein funktionierendes Sozialsystem gibt. Die Eltern argumentieren, dass nur eines der vielen Kinder etwas erreichen muß, damit sie dort später unterkommen und versorgt sind. Die Mittelschicht, weder mit Kapital noch mit Kindern gesegnet, ist relativ schmal geworden.

Die nachwuchsfreudigen Familien, bei denen ein Dutzend Kinder keine Seltenheit ist, bevölkern in der Regel die Elendsquartiere: etliche an den Hängen im Bergtal Caraca oder in kleiner Anzahl neben reichen Wohnbezirken. Zwei Drittel aller Hauptstadtbewohner leben in den »Barrios«, den Elendsquartieren. Diese entstehen oft durch Zuzug Verwandter und Bekannter. Die Bebauung läuft dann nach folgendem Schema ab: der Staat parzelliert noch freie Flächen, die an Berghängen oder überschwemmungsgefährdeten Uferzonen liegen. Vom Staat beauftragte Bautrupps ziehen dann in kurzer Zeit die »ranchos« (Häuschen) aus Hohlziegeln und Wellblechdächern hoch. Den erkleklichen Gewinn, der dabei abfällt, teilen sich Staat und Beamte, die von den Bautrupps Kommissionen für die Bestellung erhalten. Eine Infrastruktur, d.h. Kanalisierung und Elektrizität, wird oft erst Jahre später geschaffen: meistens vor Präsidentschaftswahlen oder nach besonderen Zuwendungen an die zuständigen Beamten, die auch nur den Mindestlohn verdienen. Doch Solidarität und Zusammengehörigkeitsgefühl erweisen sich in den Barrios als beachtlich, so dass Bewohner den Strom oft vom Hauptmast selbst abzweigen, teilweise unter Lebensgefahr. Das Abwasser fließt durch selbstgegrabene offene Kanäle, was die Ausbreitung von Krankheiten begünstigt. Sind die Kinder erwachsen und gründen eine eigene Familie, lassen die Eltern noch ein Stockwerk obendrauf bauen. Allerdings sind die Häuser statisch dafür nicht ausgelegt. Behausungen an Berghängen erweisen sich häufig als nur notdürftig fundamentiert, so dass tropische Gewitter schon mal einige wegspülen. Der architektorische Wildwuchs führte dazu, dass manche Häuser so verwinkelt stehen, dass sie weder Sonnenlicht noch Frischluft erhalten. Die schmalen Treppen, die sich an den Hauswänden entlangziehen, sind brüchig und nicht beleuchtet. Doch Not schweißt die Menschen zusammen und macht erfinderisch. In Maracaibo besetzten die Zuwanderer einfach ein nicht eingezäuntes und nicht bewachtes Stück Land und bauten über das Wochenende ihre »ranchos«. Der Eigentümer hat in diesem Fall sein Land praktisch verloren, es sei denn, er verfügt über Kontakte zur Politik und Polizei und über genügend Geld, um die zuständigen Beamten zu bezahlen.

Wie bereits erwähnt, handelt es sich um »luxuriöse« Slums, wenn wir internationale Vergleichsmaßstäbe anlegen. Alle verfügen über Elektrizität, fließendes Wasser und bestehen aus Hohlziegeln. Fernsehgerät und Kühlschrank sind Standard. Laut Statistik hausen nur 13% der Venezolaner in »ranchos«. Doch der Begriff ist in der Statistik anders definiert: als »ranchos« gelten dort nur Lehmhütten oder ähnliches.

Öffentliche Verkehrsmittel erreichen die oberen Bergzonen nicht, so dass sich die Ärmsten noch mal in zwei Schichten aufteilen lassen: die Ärmsten der Armen wohnen am weitesten oben und müssen von der Straße, die der Bus noch befährt, zu Fuß weiter. Nicht selten ist das eine Höhe von bis zu fünfzehn Stockwerken, die überwunden werden muß. Diejenigen, die etwas mehr besitzen, hausen auf den unteren Berghängen und haben einen kürzeren Weg zu den Verkehrsmitteln.

Der Staat hat gesetzlich einen Mindestlohn festgelegt, der in der Hauptstadt höher ist, als im übrigen Land. Kleinere Unternehmen umgehen dieses Gesetz mit rüden Methoden. Sie lassen Arbeiter zwischen Kündigung und Unterschrift für den Erhalt des Mindestlohns wählen. Der Arbeiter erhält dann einen Betrag, der deutlich unter dem vorgeschriebenen Mindestlohn liegt. Die soziale Arbeitsgesetzgebung über Kündigungsschutz und hohe Abfindungen haben den Erfindungsreichtum der Unternehmer so weit beflügelt, dass sie alle Gesetze umgehen. Früher kam es vor, dass man ein leeres Schuhgeschäft betrat, wo fünf Verkäuferinnen miteinander tratschten und den Kunden nicht beachteten. Heute kämpfen zehn Verkäuferinnen darum, den Kunden bedienen zu dürfen. Das liegt daran, dass der Inhaber Festangestellte entließ, um sie dann als Subunternehmer auf Provisionsbasis wieder einzustellen. Dadurch sparte er spätere Abfindungen und mußte sich nicht an Kündigungsfristen halten. Der Staat mußte neue Gesetze erlassen, um ein solches Ausufern zu verhindern. Da die Armen das niedrigste Bildungsniveau haben, verrichten sie die geistig anspruchsloseste, aber meist körperlich schwerste Arbeit. Einer Nebentätigkeit gehen sie in der Regel nicht nach, da weder Energie noch ein höherer Bildungsabschluß vorhanden sind. Da die Kinder kein Taschengeld erhalten, kommt es vor, dass die Töchter in Nachtbars arbeiten oder ihren Körper anbieten. Die Söhne lassen sich schnell zu kriminellen Delikten verleiten, weil sie Geld benötigen, um ihre Freundin einzuladen.